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Was würde passieren, wenn man die Grundmandatsklausel abschafft?


Der tiefere Sinn der Grundmandatsklausel

In einem Wahlsystem der personalisierten Verhältniswahl mit Sperr­klausel sorgt die Grundmandatsklausel dafür, dass auch Parteien, die unterhalb des Sperrquorums geblieben sind, dennoch proportional gemäß ihres Stimmenanteils in das Parlament einziehen, sofern sie eine bestimmte Anzahl an Direktmandaten (die sogenannten Grundman­date) gewonnen haben.

Als im Januar 2023 die Ampelfraktionen einen Gesetzentwurf einbrachten, der im Bundeswahlgesetz das Erfordernis einer Hauptstimmendeckung ("Kappungsmodell") verankern sollte, wurde vielfach kritisiert, dass die Grundmandatsklausel noch immer Teil des reformierten Wahlrechts sei. Die Klausel galt vielen als überholt, unfair, sinnlos oder gar verfassungs­widrig. Dennoch sollte immer auch berücksichtigt werden, dass eine Abschaffung der Grund­mandats­klausel zu möglicherweise dramatischen politischen Konsequenzen führt. Diese sollen weiter unten dargestellt werden, nachdem zunächst die rechtlichen und politischen Szenarien zu definieren sind, auf denen die Untersuchung aufbaut. Bedauerlicherweise wird die Darstellung etwas unübersichtlich, weil zum Teil auch Versionen des Bundeswahl­gesetzes diskutiert werden, die mittlerweile überholt sind. Auf der anderen Seite steht aber immer noch nicht endgültig fest, nach welchem Wahlrecht die Bundestagswahl 2025 tatsächlich stattfinden wird.


Wahlrecht A-G (mit Grundmandatsklausel):

Im bis Anfang 2023 geltenden Bundeswahlgesetz hieß es in § 6 Abs. 3:

"Bei Verteilung der Sitze auf die Landeslisten werden nur Parteien berücksichtigt, die mindestens 5 Prozent der im Wahlgebiet abge­gebenen gültigen Zweitstimmen erhalten oder in mindestens drei Wahlkreisen einen Sitz errungen haben. Satz 1 findet auf die von Parteien nationaler Minderheiten eingereichten Listen keine Anwendung."

Wahlrecht A-O (ohne Grundmandatsklausel):

Hätte man aus diesem noch Anfang 2023 geltenden Bundeswahlgesetz die Grund­mandate gestrichen (wie z.B. in BT-Drucks. 20/4294 gefordert), so hätte sich § 6 Abs. 3 wie folgt verändert:

"Bei Verteilung der Sitze auf die Landeslisten werden nur Parteien berücksichtigt, die mindestens 5 Prozent der im Wahlgebiet abge­gebenen gültigen Zweitstimmen erhalten. Satz 1 findet auf die von Parteien nationaler Minderheiten eingereichten Listen keine Anwendung."

Wahlrecht B-G (mit Grundmandatsklausel):

Im Gesetzentwurf vom Januar 2023 hieß es in § 6 Abs. 1:

"Ein Wahlkreisbewerber einer Partei (§ 20 Absatz 2) ist dann als Abgeordneter gewählt, wenn er die Mehrheit der Wahlkreisstimmen auf sich vereinigt und im Verfahren der Hauptstimmendeckung (Satz 4) einen Sitz erhält. In jedem Land werden die Bewerber einer Partei, die in den Wahlkreisen die Mehrheit der Wahlkreisstimmen erhalten haben, nach fallendem Wahlkreisstimmenanteil gereiht. Der Wahlkreisstimmenanteil ergibt sich aus der Teilung der Zahl der Wahlkreisstimmen des Bewerbers durch die Gesamtzahl der gültigen Wahlkreisstimmen in diesem Wahlkreis. Die nach § 4 Absatz 3 für die Landesliste einer Partei ermittelten Sitze werden in der nach Satz 2 gebildeten Reihenfolge an die Wahlkreisbewerber vergeben (Verfahren der Hauptstimmendeckung)."

Der erwähnte § 4 Abs. 3 wiederum lautet:
"Für jede Partei werden die auf sie nach Absatz 2 entfallenden Sitze auf ihre Landeslisten im Verhältnis der Zahl der Hauptstimmen der Landeslisten nach dem Divisorverfahren mit Standardrundung verteilt (Unterverteilung)."

Der hier zitierte § 4 Abs. 2 schließlich bestimmt:
"Zwischen den Parteien werden die Sitze im Verhältnis der Zahl der Hauptstimmen, die im Wahlgebiet für die Landeslisten der Partei abgegeben wurden, nach dem Divisorverfahren mit Standardrundung verteilt (Oberverteilung). Nicht berücksichtigt werden dabei
1. die Hauptstimmen derjenigen Wähler, die ihre Wahlkreisstimme für einen Bewerber abgegeben haben, der gemäß § 6 Absatz 2 erfolgreich ist, und
2. Parteien, die weniger als fünf Prozent der im Wahlgebiet abgegebenen gültigen Hauptstimmen erhalten haben, wenn sie in weniger als drei Wahlkreisen die meisten Wahlkreisstimmen errungen haben.
Satz 2 Nummer 2 findet keine Anwendung auf Listen, die von Parteien nationaler Minderheiten eingereicht wurden."


Wahlrecht B-O (ohne Grundmandatsklausel):

Im modfizierten Gesetzentwurf vom März 2023 wurde die Grund­mandats­klausel gestrichen, indem aus § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 der Halbsatz "wenn sie in weniger als drei Wahlkreisen die meisten Wahlkreisstimmen errungen haben" entfernt wurde.

Um die Auswirkungen der Grundmandatsklausel besser analysieren zu können, sollen mit Fokus auf die (nur im Bundesland Bayern antretende) CSU zwei alternative Wahlausgänge - ein historischer und ein hypothe­tischer - zugrundegelegt werden und auf die oben genannten vier Wahlrechtstypen angewendet werden.


Wahlausgang 1:

Bei der Bundestagswahl 2021 wurden insgesamt 46.442.023 gültige Zweit­stimmen abgegeben, von denen auf die CSU 2.402.827 Stimmen entfielen. Dies waren 5,17 Prozent aller gültigen Zweitstimmen. Zugleich konnte die CSU von den 46 bayerischen Wahlkreisen 45 Wahlkreise gewinnen.

Wahlausgang 2:

Nimmt man hypothetisch an, 50.000 CSU-Wähler/innen wären zu Hause geblieben und eine gleich hohe Zahl an Wähler/in­nen hätte statt der CSU eine andere Partei gewählt, so hätte die CSU nur noch 2.302.827 von insgesamt 46.392.023 Stimmen er­halten, was einem Anteil von nur noch 4,96 Prozent entspräche. Unter der Annahme, dass der Wählerverlust in allen Wahlkreisen in gleicher relativer Höhe stattfand, hätte die CSU zwar den Wahlkreis München West/Mitte verloren, wäre aber in 44 Wahlkreisen stimmenstärkste Kraft geblieben.

Wenn man die beiden Wahlausgänge mit den oben beschriebenen Wahlrechtssystemen kombiniert, erhält man die folgenden Ergebnisse:


Szenarien  1-A-G und 1-A-O und 1-B-G und 1-B-O

In jedem dieser vier Szenarien - denen das tatsächliche Ergebnis der Bun­destagswahl 2021 zugrundeliegt - bekommt die CSU mehr als 5 Prozent der Zweitstimmen. Deshalb ist es unerheblich, ob das Wahl­gesetz eine Grundmandatsklausel enthält oder nicht. Die CSU zieht - wie ja auch faktisch geschehen - mit 45 Abgeordneten in den Bundestag ein, was einem Anteil von ca. 6,1 Prozent aller Sitze entspricht. (Der Sitz­anteil ist höher als der oben erwähnte Stimmenanteil von 5,2 Prozent, weil in letzterem ja auch jene Parteien enthalten sind, die an der Sperr­klausel gescheitert sind).


Szenarien  2-A-G und 2-B-G

In diesen beiden hypothetischen Szenarien bekommt die CSU weniger als 5 Prozent der Zweitstimmen, profitiert aber von der Existenz der Grund­mandats­klausel und zieht mit 44 Abgeordneten in den Bundes­tag ein, was einem Anteil von ca. 6,0 Prozent aller Sitze entspricht.


Szenario  2-A-O

Nun wird es spannend: Streicht man die Grundmandatsklausel aus dem Anfang 2023 geltenden Wahlgesetz, würde das schlechtere Stimmen­ergebnis des Wahlaus­gangs 2 dennoch zu einem deutlich höheren Anteil an Sitzen für die CSU führen!

Die CSU würde in diesem Szenario alle 44 Wahlkreise gewinnen, in denen sie die Mehrheit der Stimmen errungen hat. Das Besondere aber ist, auf welche Weise ihr diese Sitze zugeteilt würden. Hierzu muss man noch einmal einen Blick in das Gesetz werfen:


Im Bundeswahlgesetz (in der Fassung von Anfang 2023) heißt es in § 6 Abs. 1:
"Für die Verteilung der nach Landeslisten zu besetzenden Sitze werden die für jede Landesliste abgegebenen Zweitstimmen zu­sam­men­gezählt. Nicht berücksichtigt werden dabei die Zweitstimmen derjenigen Wähler, die ihre Erststimme für einen im Wahlkreis erfolgreichen Bewerber abgegeben haben, der gemäß § 20 Absatz 3 oder von einer Partei vorgeschlagen ist, die nach Absatz 3 bei der Sitzverteilung nicht berücksichtigt wird oder für die in dem betref­fenden Land keine Landesliste zugelassen ist. Von der Gesamtzahl der Abgeordneten (§ 1 Absatz 1) wird die Zahl der erfolgreichen Wahlkreisbewerber abgezogen, die in Satz 2 genannt sind."


Laut Wahlausgang 2 ist die CSU eine Partei, die unter 5 Prozent geblieben ist und deren Stimmen somit bei fehlender Grundmandatsklausel nicht berücksichtigt werden können. Folglich würden alle 44 Wahlkreismandate, die die CSU in diesem Szenario errungen hat, von der Gesamtzahl der zu verteilenden 598 Bundestagssitze abgezogen. Den anderen Parteien, die die Sperrhürde überwunden haben, blieben damit nur noch 554 reguläre Sitze, die gemäß ihrer Stimmenanteile zu verteilen wären.

Indem die CSU-Mandate außerhalb des Proporzes zugeteilt würden (ähnlich wie dies im Fall von Wahlkreisen geschieht, die durch Einzel­bewerber gewonnen werden), könnten sie auch nicht mehr in eine eventuelle Berechnung von Ausgleichsmandaten mit einbezogen werden. Alle Zweitstimmen, die für die CSU abgegeben wurden, wären an der Sperrklausel gescheitert und würden nicht berücksichtigt; somit müssten die von der CSU gewonnenen Wahlkreise auch nicht mehr durch Aus­gleichsmandate kompensiert werden. Folglich müssten die 11 Über­hang­mandate, die bei der Bundestagswahl 2021 zugunsten der CSU ent­standen sind, auf jeden Fall von der (erhöhten) Zahl der Bundes­tags­sitze abgezogen werden; zusätzlich jedoch auch die damit verbundenen Ausgleichsmandate, die bei CSU-Überhängen bekanntlich in viel größerem Ausmaß entstehen als bei Überhangmandaten anderer Parteien. Wenn man pessimistisch annimmt, dass durch das Herausfallen der CSU aus dem Proporz nur genau die Hälfte aller Überhang- und Ausgleichs­mandate entfallen, so würde der Bundestag im Szenario 2 ohne Grund­mandats­klausel auf eine Größe von 667 Abgeordneten schrumpfen gegenüber dem Szenario 1-A-G, was für die CSU einen Sitzanteil von 6,6 Prozent bedeuten würde.

Unter dem Strich würde also eine Abschaffung der Grundmandats­klausel der CSU zu einem um 0,6 Prozentpunkte (=10%) höheren Sitzanteil verhelfen! Man kann sich diesen Effekt auch bildlich vorstellen: Alle anderen Parteien erhielten wie gewohnt ihr proportionales Stück vom Kuchen - nur die CSU bekäme vorab ein großes schwarzes Stück zugeteilt, welches sie mit niemandem teilen müsste. In Sitze umgerechnet würde sich die CSU in einem Wahlsystem ohne Grundmandats­klausel dank(!) ihrer herben Stimmenverluste einen Vorsprung von 4 Abgeordneten gegenüber der politischen Konkurrenz verschaffen, was unter Umständen am Ende über die Frage entscheiden könnte, welches politische Lager die Regierung stellen darf. Derartige paradoxe Effekte sind aus verfassungs­recht­lichen Gründen höchst bedenklich (siehe die Entscheidungen des BVerfG zum Negativen Stimmgewicht), so dass man schon allein aus diesem Grund die Grundmandats­klausel nicht vorschnell zur Disposition stellen sollte.


Szenario  2-B-O

Wenn die Grundmandatsklausel hingegen aus dem Gesetzentwurf der Ampel-Fraktionen gestrichen wird (so wie es am 17. März 2023 tatsächlich beschlossen wurde), ergibt sich ein völlig anderes Bild. Verkürzt man die oben zitierte Paragraphen-Kaskade auf ihre eigentliche Essenz, so ist ein Wahlkreisbewerber dann als Abge­ord­neter gewählt, wenn er die Mehrheit der Wahlkreisstimmen auf sich vereinigt und seine Partei mindestens fünf Prozent der Zweitstimmen erhält. Diese Voraus­setzung wäre im Wahlausgang 2 von der CSU nicht erfüllt, so dass ihr kein einziges Wahlkreismandat zugeteilt würde und sie trotz einer Stimmenmehrheit in 44 Wahlkreisen nicht mehr im Bundes­tag vertreten wäre. Dies würde eine noch dramatischere Ver­zerrung als im Szenario 2-A-O bedeuten und es ist unverständlich, wie renommierte Staatsrechtler und Staatsrechtlerinnen dennoch die Ansicht vertreten können, es mache "keinen Sinn, dass die Grund­mandats­klausel weiterhin gilt", und für deren Abschaffung plädieren.

Sicherlich: Im Sinne einer puristischen Theorie mag es unbefriedigend sein, wenn über die Grundmandats­klausel weiterhin ein Element der Mehrheits­wahl in ein Wahlsystem hineinfunken kann, welches mit der Wahlrechts­reform 2023 in ein reines Verhältnis­wahl­system umge­wan­delt werden soll. Auf der anderen Seite dürfte es aber politisch schwer zu vermitteln sein, warum eine "regionale Schwerpunkt­partei" wie die CSU trotz einer Stimmen­mehrheit in 44 Wahlkreisen nicht mehr im Bundestag vertreten sein könnte und warum dann das gesamte Bundesland Bayern ein paar Dutzend Sitze weniger im Bundestag hätte, als eigentlich vorgesehen ist. Dieses durchaus realistische Szenario unterstreicht aber auch auf eindrucksvolle Weise, wie grausam selektiv das scharfe Schwert der Sperrklausel wirken kann (und in diesem sehr speziellen Fall wäre noch nicht einmal die Ersatzstimme eine Rettung für die CSU und für diejenigen, die sie gewählt haben). Wer eine Lösung für die auftretenden Probleme sucht, müsste sich deshalb auch an die Frage heranwagen, ob die Sperrhürde in der bekannten Form überhaupt noch zeitgemäß ist.

Um dem drohenden Totalverlust ihrer parlamentarischen Vertretung zu entgehen, könnte die CSU auf die Idee verfallen, gar keine Landesliste aufzustellen und ihre Kandidaten stattdessen als (Pseudo)-Einzel­be­werber antreten zu lassen. Auch wenn eine solche Strategie ebenfalls gewisse Risiken bergen würde, so könnte die CSU doch zumindest mit dem oben beschriebenen Bonus rechnen, der unter Umständen dafür sorgt, dass die Partei selbst bei deutlichen Stimmenverlusten ihrer Kandidaten dennoch ein deutliches Plus an Bundestagssitzen (im Vergleich zu einer Situation mit Landesliste und Grund­mandats­klausel) verbuchen kann.



Erstmalige Erstellung der Seite am 26.1.2023, letzte Aktualisierung am 30.4.2023.


 

 
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